Um in der Evolution erfolgreich zu sein, müssen „die Vielen“, der Schwarm, zahlreiche Grundvoraussetzungen (Prinzipien) erfüllen, die angelehnt an die Forschungsergebnisse renommierter Verhaltensbiologen, wie beispielsweise Karl Crailsheim und Thomas Schmickl, kurz zusammengefasst und erklärt werden. Diese Prinzipien sind aus Sicht der Verhaltensbiologie typische Grundvoraussetzungen, sodass von einer Gruppe von Individuen in ihrem Zusammenwirken typischerweise von Schwarmintelligenz gesprochen werden kann. Wir werden aber auch sehen, dass die Schwarmprinzipien von Ameisen uns ebenso Inspiration sein können für logistische Überlegungen, sowohl was die Suche nach optimalen Lösungen betrifft als auch für die Führung von Unternehmungen und Organisationen:

Prinzip der Anpassungsfähigkeit

Der Schwarm soll in der Lage sein, bei genügend großen Veränderungen der Umwelt sein Verhalten umzustellen, sofern dieses zu einer verbesserten Konfiguration führt. Am Beispiel der Ameisen bedeutet das, dass eine Ameisenstraße zugunsten einer besseren Wegoption verlassen werden sollte. Ist der Weg durch einen umgestürzten Baum oder etwas Ähnlichem versperrt, so ist der Ameisenschwarm in der Lage, einen neuen Weg zum gewünschten Ziel zu finden. Aus diesem Prinzip der Anpassungsfähigkeit lassen sich – mit nicht allzu großer Phantasie – Handlungsstrategien für Logistiker und SCM-Manager in Unternehmungen ableiten. Das Prinzip der Anpassungsfähigkeit ist ein Teilprinzip der Selbststeuerung und Selbstorganisation, weil kein Einzelner die Gruppe bzw. den Schwarm lenkt oder führt, sondern die wenigen, meist einfachen Regeln (Prinzipien), dezentral organisiert und geführt sind. Manche sprechen von heterarchischen Organisationsstrukturen. Aus dem Prinzip der Anpassungsfähigkeit nährt sich ebenso die Systemeigenschaft der Robustheit.

Prinzip der Nachbarschaft

Die Individuen des Schwarmes sollen ihre Aktionen und ihre Wahrnehmung nur in einem begrenzten lokalen Radius durchführen können, was bedeutet, dass sie mit ihrem Verhalten ausnahmslos die lokal vorhandenen Umweltreize „verrechnen“. Ist der Aktionsradius zu groß, so würde permanent auf Reize reagiert werden, die das jeweilige Tier gar nicht betreffen. Mit anderen Worten: die Futtersammlerin eines Ameisenstaates, die gerade eine Ressource einbringt, sollte nicht darauf reagieren, wenn im mehrere Meter entfernten Nest eine Larve geputzt wird. Auch hier haben wir ein wesentliches Element der dezentralen Führung. Nicht mehr eine zentrale – über alles relevante Wissen verfügende – Instanz ordnet an und alle haben zu befolgen, sondern eine hoch arbeitsteilige Organisation muss sich auf die lokal verrechenbaren Umweltstimuli konzentrieren. Tun dies alle, dann kann eine selbstorganisierende Gruppe entstehen, die sich sozusagen selbst führt. Das Prinzip der Nachbarschaft spielt also auch im Management eine erhebliche Rolle, bedenkt man nur, dass Arbeitsteilung, Spezialisierung und Arbeitszerlegung wesentliche Treiber unseres Wohlstands darstellen, wie bereits bei Adam Smith Hauptwerk „Wohlstand der Nationen“ (1776) so ausführlich und eindringlich dargestellt.

Prinzip der Stabilität

Nicht jede (kleine) Änderung in den Umweltreizen soll zu einer Verhaltensänderung des Schwarms führen. Reagiert das System zu empfindlich, so treten zweierlei Probleme auf. Einerseits kommt es zu ineffizienten Überreaktionen auf schwache Reize und andererseits wird auch auf jeden fehlerhaften Stimulus, wie beispielsweise ein Fehlalarm, reagiert. Dadurch wäre das System nicht fehlertolerant. Und Fehler passieren. Auch im Schwarm. Wiederum erkennen wir fast selbsterklärend wie sehr uns die Begrifflichkeit Fehlertoleranz in Unternehmungen betrifft. Ein System – wie beispielsweise – eine Logistikkette muss Systemelemente beinhalten, dass bei Fehlern oder auch bei kleineren Regelverstößen nicht das ganze System betroffen ist. Der Einbau von zeitlichen oder mengenmäßigen Puffern bei Just-in-Time-Anlieferungen ist heute im Automobilbau Standard und ist vielfach so fein-justiert, dass die atemberaubenden Leistungen von BMW, Mercedes und Co. überhaupt kosten- und leistungsmäßig möglich sind.

Prinzip der verschiedenartigen Antwort

Der Schwarm soll ein ausreichend vielseitiges Verhaltensrepertoire besitzen. Das (summierte) Verhaltensrepertoire aller beteiligten Individuen sollte in der Lage sein, auf alle oder möglichst viele Probleme, die der Schwarm zu meistern hat, eine angepasste Verhaltensantwort geben zu können. Dazu ist ein Mindestmaß an Diversität im Schwarm vonnöten. Die Vielfalt des Verhaltens der Einzelnen stellt im Rahmen der Gruppenbildung und Gruppenleistung ein zentrales Element in der Logistik dar. Je größer die „Gruppen“ und je mehr „Vielfalt“ innerhalb der Gruppe umso mehr kompensieren sich die fehlerhaften Abweichungen. Je vielfältiger die Gruppe, umso vielfältiger das Verhaltensrepertoire. Das Prinzip der verschiedenartigen Antwort ist somit auch ein zentrales schwarmintelligentes Element in Bezug auf die Verhaltensvariabilität von Systemen. Je verhaltensvariabler ein System umso mehr muss es dezentral gesteuert sein. Wir erkennen also auch anhand dieses Prinzips, dass sich die einzelnen Prinzipien ergänzen, korrigieren oder auch kompensieren, wie das für intelligente Systeme absolut von Nöten ist.

Betrachtet man die vorhin genannten Prinzipien eingehender, erkennt man intuitiv, dass sich einige dieser Prinzipien – möglicherweise – widersprechen. Dies trifft auch tatsächlich zu. Der auf Ameisenrobotik spezialisierte österreichische Verhaltensforscher Thomas Schmickl führt hierzu wie folgt aus: „Hier geht es also für den Schwarm um eine Optimums-Findung, nicht zu adaptiv zu sein und auch nicht zu starr zu agieren. … Ohne die Fähigkeit mehrere verschiedene Verhaltensweisen zu zeigen, kann die Forderung nach Flexibilität von einem Schwarmsystem kaum erfüllt werden.“

Diese Aussage könnte aber genauso von einem auf Führungslehre spezialisierten Betriebswirt stammen. So sehr sind sich diese beiden Wissenschaftsdisziplinen in Theorie und Praxis nah. Erstaunlich. Oder?

Weitere Informationen finden Sie in dem Beitrag Schwarmintelligenz – Was wir Logistiker von Ameisen lernen können – Teil I.

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