Wie rasch wir mit der Alltagserfahrung an unsere eigenen Grenzen stoßen, soll dieser Beitrag zeigen. Es geht um den Alltagsbegriff “Pünktlichkeit”, der aber im Supply Chain Management eine eminente Rolle spielt. Vor allem die belastbare Pünktlichkeit, die verbindliche Terminzusage über lange Lieferketten hinweg – auch bei Spitzenbelastungen – ist eine beträchtliche Herausforderung für alle Lieferkettenbeteiligten. In der Fachsprache spricht man von ATPAvailable to Promise – und bedeutet so viel wie ein “festes Lieferversprechen”, auf das sich die Beteiligten einer Lieferkette verlassen können.

Von der Pünktlichkeit zur Termintreue

Der SC-Manager benötigt messbare – operationalisierbare – Aussagen. Ohne Messbarmachung gibt es keine Messung und ohne Messung keine konkreten Handlungsanweisungen. Ohne konkrete Handlungsanweisungen gibt es keine konkreten Pläne und keine konkreten Ausführungen. Aber gerade diese stellen in der betriebswirtschaftlichen Praxis des SCM die Crux dar. Entscheidend ist, dass der Alltagsbegriff “Pünktlichkeit” genau definiert und operationalisiert wird und damit unter anderem zu einem steuerbaren Lieferkettenelement “Termintreue” wird.

“Was Du nicht messen kannst, kannst Du nicht managen.” (Peter Drucker)

Die Termintreue ist das Verhältnis der terminlich korrekten Lieferungen zur Gesamtanzahl der Lieferungen. In der Fachliteratur greift die Termintreue auf die Häufigkeitstheorie und auf die Wahrscheinlichkeitstheorie zurück. Hatten wir z.B. bei einer Just-in-Time-Anlieferung (JIT) 1000 Zustellungen (a) vorgenommen und davon waren beispielsweise 990 terminlich korrekt (b), dann sprechen wir von einer Termintreue von b/a = 0,99 (das entspricht einer Termintreue von 99 %). Diese Daten können sowohl im Nachhinein – ex post – als auch steuernd im Vorhinein – ex ante – eingesetzt werden. Der Termintreuewert ist somit ein Zuverlässigkeitswert, der definitorisch das “Delta” zwischen “Bestätigtem Liefertermin und “tatsächlichen Liefertermin” ausdrückt. Dieses Delta kann durch eine genügend große Stichprobe in eine Wahrscheinlichkeitsaussage überführt werden. In der SCM-Praxis bedient man sich bei der Berechnung von solchen Berechnungen häufig der logistischen Simulation.

SC-Manager und die Termintreue

Welche Daten benötigt nun der SC-Manager, um eine zuverlässige Aussage über Zeit und Termintreue tätigen zu können? Er benötigt eine konkrete terminliche Kundenanforderung, die in Form eines Termintreuewertes ausgedrückt ist, er benötigt des Weiteren die Anlieferzeiten, die aus der nahen Vergangenheit gemessen wurden, und schließlich kann er mit Hilfe der Statistik die Lieferzeitschwankungen, also die mittlere Abweichung von der durchschnittlichen Anlieferdauer ermitteln. Die nahe Vergangenheit der Messwerte werden als Korrelat der nahen Zukunft betrachtet.

Praxisbeispiel zur Termintreue

Unser Kunde verlangt von unsere Anlieferungen eine Termintreue von 99,9 Prozent, auf keinen Fall möchte der Kunde, dass zu spät geliefert wird. Die mittlere Anlieferzeit ist aus einer größeren Anzahl von Lieferzeitmessungen mit 35 Minuten ermittelt worden. Die mittlere Abweichung (Standardabweichung) beträgt z.B. +/- 6 Minuten. Wir können folglich die Termintreueanforderung des Kunden erfüllen, wenn wir 53 Minuten vor dem vereinbarten Spätesttermin mit der JIT-Anlieferung starten.

So rechnet der Zeitstratege

Die Anforderung des Kunden von 99,9 Prozent entspricht einer sogenannten 3-Sigma-Anforderung (sog. Sicherheitsfaktor). Das Sigma steht für 1 Standardabweichung. 3 Sigma stehen sohin für 3 Standardabweichungen. Somit muss man lediglich zum Mittelwert von 35 Minuten 3 Standardabweichungen hinzuzählen: das ergibt somit 35 Minuten zuzüglich 3 mal 6 Minuten = 53 Minuten. Um also eine Termintreue von 99,9 Prozent (Sicherheitsgrad) zu gewährleisten, muss z.B. der anliefernde JIT-LKW spätestens 53 Minuten vor der geplanten – terminlich korrekten Spätestankunft – starten. In diesem modellhaften Beispiel werden einige Annahmen getroffen, die durchaus in vielen Fällen der logistischen Realität entsprechen: Die Ankunftsverteilung wird als eine Normalverteilung angenommen, die Schwankungen der Anlieferzeiten sind regelmäßig stochastisch. Ausreißer (z.B. extreme Ausnahmefälle) werden extrapoliert etc.

Der ausgebildete SC-Manager kann mittels grundlegender Statistikkenntnisse und den enstprechenden logistischen Fachwissen alle möglichen Lieferanforderungen über ein komplexes Liefernetzwerk hinweg – bei entsprechender Datenverfügbarkeit – berechnen. SC-Manager sind letztlich “Zeitstrategen”, die sich mit den “Naturgesetzen” und den zahlreichen Eigentümlichkeiten von Zeit, Zeitverbrauch und Termintreue intensivst auseinandersetzen und zu belastbaren (robusten) Terminzusagen – gemäß ATP – gelangen.

Informationen zu Kosten im SCM finden Sie unter “Die Kosten nicht genutzter Chancen im Supply Chain Management”.

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