Um den sich rasant entwickelnden neuen Möglichkeiten der Digitalisierung Rechnung zu tragen, entschloss sich ein weltweit führender Hersteller von Elektrowerkzeugen, sein in Rheinland-Pfalz gelegenes Lager zu modernisieren. Dabei standen sowohl das Lagerverwaltungssystem als auch dessen angegliederte IT-Systeme im Fokus. Der Standort realisiert einen wesentlichen Teil des weltweiten Umsatzes der Eigenmarke des Herstellers von Heimwerker- sowie Profiwerkzeug. Betrieben wird das Warehouse über einen Logistikdienstleister. Auf 80.000 m² bearbeiten 850 Mitarbeiter eine Kapazität von etwa 150.000 Paletten. Das Distributionszentrum zeichnet sich durch vollautomatisierte Hochregallager und komplexe logistische Prozesse aus. In einem gemeinsamen Projekt zwischen dem Elektrowerkzeugproduzenten, dessen Logistikdienstleister, TUP sowie SSI Schäfer sollte unter Volllastbetrieb die bestehende Lösung durch ein modernes Warehouse-Management-System ersetzt werden. Eine Aufgabe, wie gemacht für die Retrofit-Experten des Software-Unternehmens aus Stutensee.

Die Ausgangslage des Projekts

Innerhalb des Lagers wurden die Bestellungen über eine komplexe IT-Landschaft mit einer Vielzahl an Schnittstellen bearbeitet, die mehrere Software-Lieferanten bereitstellten. Die hohe Automatisierung bewirkt im gesamten Projekt die zusätzliche Herausforderung, dass viele Gewerke, Abwicklungsarten und deren jeweilige Abhängigkeiten berücksichtigt werden müssen. Durch das schwankende Kundenauftragsvolumen mit hohen Bestellspitzen war und ist eine zentrale Anforderung an TUP, dass die Umstellung in allen Bereichen im laufenden Betrieb erfolgen soll – ohne dabei negative Auswirkungen auf die Liefererfüllung der Endkunden des Werkzeugherstellers zu generieren. Das 2019 begonnene Projekt hat das Ziel, bis 2024 die diverse Software-Landschaft Schritt für Schritt unter einer eigens für den Standort entwickelten Lösung aus dem Hause TUP zu ersetzen. Teilprojekte, durch die Teams auch als „Migs“ für Migration bezeichnet, erfolgen dieser Reihe nach: Verladung, Wareneingang, Lieferung, Sonderprozesse.

Parallelbetrieb mit „Drehregler“ während Migrationsschritten

Während der ersten Corona-Phase 2020 verzeichneten Baumärkte einen enormen Absatz. Laut der Plattform absatzwirtschaft.de war es beispielsweise für Hornbach das erfolgreichste Frühjahrsquartal in der Geschichte des Unternehmens. Für die Baumärkte stellt das rheinland-pfälzische Warenlager ein Drehkreuz für die Konsolidierung der aus aller Welt gelieferten Produkte dar. So bedeutet dies für das Intralogistikprojekt, dass die Migration absolut reibungslos verlaufen musste, um das Potential dieser Situation voll auszuschöpfen.

In der bereits erfolgreich abgeschlossenen ersten Migrationsstufe wurden die Systeme, die für die Verladung versandfähiger Waren, den Warenausgang sowie die Zoll- und Gefahrgutabwicklung benötigt werden, in einen feinjustierbaren Parallelbetrieb überführt. Der Austausch zwischen den Alt- und Neusystemen wurde durch eine performante Schnittstelle geleistet, um sicherzustellen, dass beide zu jedem Zeitpunkt die volle Last übernehmen konnten. Durch dieses Vorgehen wird gewährleistet, dass die Fallback-Lösung ein ständig verfügbarer und vor allem beliebig belastbarer Teil der Migration ist. So konnte während der ersten Stufe beispielsweise pro einzelnem LKW entschieden werden, welches System die Abwicklung übernehmen soll. Für die folgenden Migrationsschritte wird gemeinsam mit den Teams des Elektrowerkzeugherstellers entschieden, wo und wie das Drehreglerprinzip angewendet werden soll, um die Lieferfähigkeit in jedem Fall zu gewährleisten.

Insbesondere in der Projektumsetzung unter Pandemiebedingungen hat sich dieser Ansatz bewährt. Die Teams vor Ort konnten flexibel auf entstehende Personallücken und sich verändernde Anforderungen an das neue System reagieren, indem sie anfallende Auftragslasten je nach Lage zwischen Alt- und Neusystem verteilten. Im zweiten Migrationsschritt wurden mit demselben Prinzip die Wareneingangs- sowie Qualitätssicherungsprozesse übernommen. Die unmittelbar folgenden Stufen des Projekts umfassen das Leitsystem für Flurförderzeuge, die Auftragseinlastung sowie die Kommissionierung. Dort wird der Fokus auf der Optimierung der Prozesse durch Routing und digitale Unterstützung in den Kommissionierprozessen liegen.

Der Unterbau aus Software-Architektur und effizienten Testlösungen

Um Projektrisiken zu identifizieren und während des Betriebs trotzdem umfassende Tests durchführen zu können, setzte das TUP-Team auf das Prinzip der hexagonalen Architektur sowie schlanke Testprogramme. Diese Systeme ahmen die eigentlichen Live-Systeme – wie beispielweise das Enterprise-Ressource-Planning (ERP) oder den Materialflussrechner – nur so weit nach, wie es für das Testszenario erforderlich ist. Der entscheidende Vorteil ist, dass ein Funktionstest deutlich weniger Koordinations- und Planungsaufwand erfordert und die durch TUP auch als „Imposter-System“ bezeichneten Lösungen einfach zu parametrieren und anzupassen sind. Beispielsweise kann die Kommunikation auf ERP-Ebene getestet werden, selbst wenn es noch in der Konzeptions- oder einer frühen Entwicklungsphase ist. Dadurch reduzieren sich die Abhängigkeiten zwischen den Gewerken, was das Projektrisiko reduziert und detaillierte Tests ermöglicht.

Hexagonale Softwarearchitektur

Der zentrale Aspekt der bereits erwähnten hexagonalen Architektur ist die Trennung der fachlichen Bausteine von ihren technischen Anforderungen. Dadurch entstehen leistungsfähige Schnittstellenkonzepte, die einen Tausch der angebundenen Elemente, wie Bestands- und Testsystem oder auch Nutzeroberflächen, jederzeit ermöglichen.

Unternehmensübergreifende Projektteams statt Kunden-Dienstleister-Beziehungen

Die komplexe Gemengelage aus vielen hochautomatisierten Lösungen und mehreren Software-Lieferanten bei gleichzeitiger Anforderung, die Leistung des Standorts nicht zu beeinträchtigen, bedingten und erfordern die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit aller Projektbeteiligten. Teamarbeit war und ist ein zentraler Erfolgsfaktor. In diesem Kontext nutzen die Partner das Modell „arc42“ zur Planung von Softwarearchitekturen. Es ist ein pragmatisches Template zur Entwicklung, Dokumentation und Kommunikation von Softwarearchitekturen mit vielen unterschiedlichen Stakeholdern.

Das „arc42“-Modell stellt Strukturen, übergreifende Konzepte sowie Begründungen der gemeinsamen Entscheidungen allgemeinverständlich dar. Es verhindert, dass ein Flickenteppich aus Problemlösungsansätzen entsteht und einzelne Projektbeteiligte irgendwann nicht mehr auf dem neuesten Stand sind. Ebenso bewahrt es davor, dass die Dokumentation zu sehr aus der Software-Perspektive geführt und für Logistiker schwernachvollziehbar wird. Auf Basis von „arc42“ ist eine Zusammenarbeit aller Beteiligten auf Augenhöhe zur konstruktiven Lösungsfindung unternehmensübergreifend und vor allem langfristig realisierbar.

Big Bangs in komplexen Projekten vermeiden

Diese Art der Kooperation bildet auch die Grundlage, um eine Lösung wie den „Drehregler“ erfolgreich zu implementieren. Denn im Hintergrund sind ein ausgefeiltes Migrationskonzept und individuelle Software-Lösungen vonnöten. Der Vorteil im Vergleich zu sogenannten Big Bangs, die oft dann zum Einsatz kommen, wenn der laufende Betrieb nicht oder nur wenig beeinträchtigt werden soll, ist eine dezidierte Risikominimierung.

Denn was tatsächlich passiert, sobald bei einem Big Bang der Schalter umgelegt wird, kann in komplexen Softwareprojekten niemand mit absoluter Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Der Gegenentwurf ist die stufenweise Migration, bei der Spezifikationen, Tests und die jeweilige Inbetriebnahme einzelner Stufen gemeinsam umgesetzt werden. So lassen sich unangenehme Überraschungen entweder komplett vermeiden oder zumindest sofort isolieren und zeitnah beheben.

 

Quellen und Links

Link zu absatzwirtschaft.de: https://www.absatzwirtschaft.de/wie-baumaerkte-und-gartenbranche-von-corona-profitieren-227443/

Zusätzliche Links: https://www.welt.de/finanzen/article224629051/Baumaerkte-und-Corona-Die-Deutschen-werden-zu-Heimwerkern.html