Eine der häufigsten Anforderungen von Unternehmungen an ihre Mitarbeiter in Logistik und Supply Chain ist der dringliche Abbau von Überbeständen. Das bemerkenswerte an dieser Handlungsanweisung ist, dass in der Praxis so getan wird, als ob diese Anforderung  in dieser Form ausführbar wäre. Manchmal hört man auch die Aussage: Überbestände sind ein Zuviel an Bestand. Da drehen wir uns aber im Kreis! Denn es stellt sich die vermeintlich einfache Frage:

Was ist ein Überbestand wirklich?

Jeder sachkundige Disponent müsste aufgrund dieser Anforderung sofort rück- und nachfragen, in Bezug auf welches logistische Leistungsmerkmal der Überbestand  als solcher zu identifizieren sei. Denn Überbestande sind nicht unabhängig von konkreten logistischen Leistungsmerkmalen (z.B. LieferfähigkeitLiefertreue, Lieferzeit) zu identifizieren, geschweige denn berechenbar. Was Überbestande sind und was nicht, lässt sich ausschließlich durch (logistische) Kundenanforderungen bestimmen. So könnte ein Manager schlüssig und korrekt behaupten, dass der Bestand eines bestimmten Artikels in Bezug auf die geforderte Lieferfähigkeit von z.B. 95 % zu hoch oder auch nicht zu hoch ist. In der Praxis wird jedoch so getan, als ob es ohnehin klar oder geklärt sei, dass es sich – meist aus dem Bauchgefühl des Vorgesetzten – um einen Überbestand handelt und es nur noch darauf ankäme diesen endlich – drastisch – zu senken.

“Gute Bestände” und “böse Bestände”

Eine weitere Herausforderung der Senkung von Beständen bzw. Überbeständen stellt sich insofern, dass die konkreten Bestände klar unterschieden werden müssen in Bezug auf ihre Funktion im jeweiligen Unternehmen. So haben einige Bestände die Funktion bestimmte Kundenanforderungen zu erfüllen. Diese Bestände möchte ich gerne als die “guten Bestände” bezeichnen. Sie dienen beispielsweise in einem Vorratslager eines Versandhandelsunternehmens der Aufrechterhaltung der Lieferfähigkeit und stellt einen entscheidenden Wettbewerbsfaktor am Absatzmarkt dar. Oder es sind Pufferbestände in einem Industrieunternehmen vorgehalten, um die getaktete Fließfertigung keinesfalls zu unterbrechen. In einem anderen Falle kann es sich um ein Ersatzteillager handeln, dass für die Versorgungssicherheit von Reparatur und Wartung vorgehalten wird. Es gibt jedoch auch Bestände (Überbestände), die ich als die “bösen Bestände” bezeichne. Diese Bestände sind das Ergebnis mangelhaft abgestimmter Prozesse entlang der Lieferkette. Sie überdecken typischerweise unterlagerte Probleme, die durch permanente Erhöhung der Bestände “zugedeckt” werden und somit die – meist chronischen – Abstimmungsprobleme von Unternehmen entlang der Lieferkette nicht sichtbar machen lassen.

Logistiker und Ärzte

Im Bestandsmanagement und im modernen Supply Chain Management wissen wir längst, dass die Höhe der Bestände immer das Ergebnis und nicht das Ziel der Lagerdisposition ist.

Daher ist die permanente Forderung nach Senkung der Bestände, immer nur die Bekämpfung der Symptome und nicht der Ursachen, analog eines Arztes, der das Fieber eines Patienten senken möchte, ohne die Ursachen des Fiebers zu identifizieren und zu bekämpfen. Wir haben es in Logistik und Supply Chain ebenso mit einer komplexen organischen Ganzheit (System) zu tun, dessen Erfassung der Wirkungszusammenhänge einfach mehr erfordert als den bloßen Hausverstand. Die nachhaltige Reduktion der Bestandssenkung ist ein – fast – ausschließliches Problem einer fundierten Prozessanalyse und eines anschließenden Prozessdesigns. In Logistik und Supply Chain verfügen wir heute über zahlreiche Werkzeuge (Tools), mit denen man die Wurzeln der Ursachen von „bösen Beständen“ identifizieren und bekämpfen kann. Die Wertstromanalyse sei nur als ein mögliches probates Mittel genannt.

Weitere Informationen finden Sie unter “Die Kosten nicht genutzter Chancen im Supply Chain Management”.

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